Die unergründlichen Werke des kollektiven Geistes. Psyche und Kultur
Mit der „Völkerpsychologie“ Moritz Lazarus’ und Heymann Steinthals verbindet sich seit den 1850er Jahren die Absicht, eine „Culturwissenschaft“ zu begründen. Diesem Vorhaben schließt sich als Völkerpsychologe auch Wilhelm Wundt an; ebenso wird es, für die „primitiven“ Gesellschaften, von Edward B. Tylor verfolgt. Hier entsteht also ein Knotenpunkt des Wissens, an dem (in der expliziten Verbindung von Psyche und „Volk“) nicht nur individuelles und kollektives Subjekt zusammengedacht werden sollen, sondern, in einer Erweiterung soziologischer und ethnologischer Fragestellungen, noch eine zusätzliche Dimension der Problematik des kollektiven Subjekts eröffnet wird. Zuspitzen kann man sie auf die Frage: Wie spricht ein solches Subjekt, und weiß es dabei, was es tut? Einer vergleichenden Erforschung unterliegen hier Religionen, Sitten, Künste, Wissenschaften und Sprachen, d.h. Ausdrucksformen des Kollektiven, die in ihrem jeweiligen Sosein keiner nachvollziehbaren Intention zugeschrieben werden können und daher offenkundig einer Erklärung bedürfen (so geht es Lazarus und Steinthal darum, im Unterschied zu einer bloß deskriptiven Kulturgeschichte tatsächlich die Gesetze des kulturellen Lebens zu erfassen). Was hier spricht, ist Lazarus und Steinthal zufolge ein „objektiver Geist“ als eine zweite, menschengeschaffene bzw. soziologisch begründete Natur. Postuliert wird also ein Subjekt, das in der Form seines Ausdrucks ein von der Summe der es bildenden Individualbewusstseine zu unterscheidendes, unverfügbares Anderes darstellt (die „Psychologie des gesellschaftlichen Menschen“ wird in diesem Sinne klar von der Individualpsychologie unterschieden).
Aus dieser anfänglichen Identifikation der Kulturwissenschaft mit der Völkerpsychologie leiten sich mehrere Fragerichtungen ab: zunächst die, in welcher Form die Vorstellung eines unverfügbaren kulturellen Selbst auftritt und mit welchen Konzepten es in Verbindung gebracht wird. So sind das kulturelle Gedächtnis und die Sprache für Lazarus und Steinthal von einem „Unbewussten“ gekennzeichnet, zu dessen Darstellung sie sich des Begriffs der „Verdichtung“ bedienen; gemeint ist damit eine Tiefendimension, die im jeweiligen Ausdruck etwas mittransportiert, was in bloßer begrifflicher „Repräsentation“ verloren ginge. Wundt wiederum macht vor allem die Bedeutung von Werten für die Kulturentwicklung stark, deren Ursprung seines Erachtens kollektivpsychologisch zu erschließen ist. Der Wert stellt so offenbar ein Zwischenglied zwischen affektiver Verfasstheit eines kollektiven Subjekts und dessen Ausdrucksformen dar. Daran anknüpfend kann zweitens gefragt werden, ob – und wenn ja, wann – ein Unterschied zwischen kollektiver und individueller Kultur postuliert wird. Das ist beispielsweise in Simmels interaktionistischem Modell der Fall, wobei die Unterscheidung auf Lazarus zurückgeht, der die subjektive Kultur mit dem Begriff „Bildung“ belegt. Drittens zielte die völkerpsychologische Kulturwissenschaft von Beginn an auch auf eine differenzielle Charakterologie der Völker; anders gesagt, geht es hier um die Frage, wie sich Kollektivsubjekte als Individuen beschreiben lassen (nämlich, wie die Auftaktnummer der Zeitschrift für Völkerpsychologie 1860 erklärt, um die „wirklich existirenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen“). Während Lazarus und Steinthal hierbei noch ein durchaus konstruktivistisches Konzept verfolgen, dem zufolge Völker nicht „sind“, sondern im kontinuierlichen Zusammenwirken der Vielen „geschaffen“ werden, ist zu fragen, wie und warum dieser Gedanke zu Beginn des 20. Jh. gegenüber einer wieder essentialistischer argumentierenden Vergleichsbetrachtung zurücktritt (und sich nach und nach auch mit rassistischem Gedankengut durchsetzt) und welche neuen Standpunkte sich mit der Ethnopsychologie der zweiten Hälfte des 20. Jh. durchsetzen.
Mehr als in den anderen zwei thematischen Achsen wird es in dieser dritten um den produktiven Aspekt gehen, denn natürlich erschließt sich die Antwort auf die Frage danach, welches kulturelle Subjekt spricht, durch Erkenntnisse darüber, wie es spricht. Zu den Erzeugnissen hypothetischer Kollektivsubjekte gehören symbolische Formen als immaterielle ebenso wie die Künste als materielle; aber auch „Denkstile“, wie sie die Wissenschaftsforschung Ludwik Flecks beschreibt, machen deutlich, dass historisch-geographisch verortbare Kollektivsubjekte sich durch das ‚Wie‘ ihres Ausdrucks zu erkennen geben. Unter diesem Aspekt wären Konzepte wie „Pathosformeln“ (Aby Warburg) oder „einfache Formen“ (André Jolles) auf kollektivpsychologische Aspekte zu untersuchen. Bei Warburg, der in den zwischen Affekt und Sublimation verharrenden bildlichen Objektivierungen des Pathos nach einer „historische[n] Psychologie des menschlichen Ausdrucks“ sucht, für die Angstverarbeitung eine zentrale Rolle spielt, liegt dies auf der Hand; bei Jolles ließe es sich mit Blick auf eine mögliche Anknüpfung an die Völkerpsychologie untersuchen, da dieser in seiner Definition einfacher Formen (bspw. von Mythologemen) den schon von Lazarus und Steinthal stark gemachten Begriff der „Verdichtung“ verwendet. Insbesondere im frühen 20. Jh. werden solche Konzepte – also bildliche oder zeichenhafte kulturelle Objektivierungen mutmaßlich psychischer Inhalte – wiederum in psychologische Theorien eingearbeitet, etwa im Begriff der „Archetypen“ bei C.G. Jung (sowie vergleichbaren Überlegungen zur tiefenpsychologischen Dimension des Mythischen bei literarischen Autoren wie Hermann Broch). Derartige Prämissen spielen aber auch für die Annahme Ernst Cassirers eine Rolle, dass das mythische Denken als symbolische Form als Regressionspotenzial überdauert und daher in politischen Krisensituationen wiederaufleben kann.
Einen speziellen Fall stellt in diesem Zusammenhang die Wissenschaftsforschung dar, da der wissenschaftlichen Praxis nicht a priori (oder zumindest weniger leicht) unterstellt werden kann, dass ihren Objektivierungen ein Affektausdruck zugrunde liege. Auch sie impliziert aber kollektive Subjekte (schon die Völkerpsychologie fragt ja auch nach der Wissenschaft) – Subjekte allerdings, deren Nichtverfügbarkeitsstruktur zu beschreiben insofern eine größere Herausforderung ist, als man es mit einem kognitiven Unbewussten zu tun hat. Dieses Problem lässt sich ästhetisch lösen, wie im Fall der „Denkstile“ bei Fleck, es kann aber auch, paradoxer, im Sinne eines nicht-gewussten Wissens formuliert werden, beispielsweise im von Michael Polanyi 1958 geprägten Begriff des tacit knowledge. Hier wäre die relevante subjekthistorische Frage, ab wann und aus welchen Gründen das Postulat eines solchen kognitiven Unbewussten offensiv vertreten werden kann.
Schließlich wird es auch in diesem Themenfeld darum gehen, an die vorigen anzuknüpfen und Querverbindungen zwischen den unterschiedlichen Formen von Kollektivsubjekten aufzuzeigen. Die Völkerpsychologie zeigt deren gemeinsame Wurzel an, aber auch später bleiben die Beziehungen eng. Direkte Verbindungen zwischen Kulturwissenschaft und Ethnologie werden etwa in Edward B. Tylors Primitive Cultures (1871) hergestellt; diese Verknüpfung befürwortet auch Wundt, der die „Naturvölker“ als sogar relevanter für die Völkerpsychologie als die „Culturvölker“ erachtet und damit offenkundig einem evolutionistischen Modell gegenüber einem soziologischen den Vorrang gibt. Für die Wissenschaftsforschung Ludwik Flecks wiederum lassen sich enge Beziehungen zu Soziologie, Psychologie und sogar Ethnologie seiner Zeit aufzeigen, wendet er doch Begriffe wie „Mythus“ und „Ritus“ auf die Wissensproduktion seines eigenen Kulturraums an. Bei ihm trifft man zudem den (natürlich auch für die Psychoanalyse bedeutsamen) Verdichtungsbegriff der Völkerpsychologen wieder an.