Björn Bertrams
Kultur als Charakter. Zur Bedeutung der Trance in der Bali-Ethnographie der 1930er Jahre
Psychologische und ethnologische Forschungsansätze entwickeln sich im 20. Jahrhundert nicht parallel, sondern interferieren auf eine Weise, die beider Entwicklung eher hinderlich ist. So fußen die Culture and Personality-Studien von Margaret Mead und anderen auf der Annahme, kulturelle Kollektive könnten als psychische Einheiten beschrieben werden. Eine Kultur besitze demnach einen partikularen, ja individuellen Charakter, der es den Ethnograph:innen ermögliche, Kollektive so zu erforschen wie es Psychoanalytiker:innen mit westlichen Individuen tun.
In den 1930er Jahren wird Bali zu einem wichtigen Forschungsfeld für die Erprobung dieses Forschungsansatzes, in dem die Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts überwintert. Die Forscher:innen um Mead (zu ihnen gehören Gregory Bateson und Jane Belo) interessieren sich dabei besonders für die Tranceriten der hinduistisch geprägten Balines:innen. Das Projekt geht der Frage nach, welche Bedeutung den Tranceriten in der Bali-Ethnographie der 1930er Jahre zukommt. Inwiefern korreliert der Selbstverlust in der Trance mit der kollektiven Subjektivität, die im Culture and Personality-Ansatz gesetzt wird?
Von einem unverfügbaren Selbst kann hier in zweierlei Hinsicht die Rede sein: Zum einen wäre die rituelle Trance der Balines:innen als ein Sich-unverfügbar-Machen zu beschreiben. Paradox ausgedrückt: Wer die Trance beherrscht, beherrscht auch den Verlust der Selbstbeherrschung, macht sich für sich und für andere unverfügbar. Zum andern ist auch die kollektive Subjektivität, die Mead & Co. erforschen – der Balinese Character – unverfügbar. Denn so sehr die Balines:innen in ihren Ritualen und in ihrem Alltag den ›balinesischen Charakter‹ zum Ausdruck bringen mögen, so wenig ›verfügen‹ sie über diese ›höhere‹, emergente Subjektivität, die sich allein den Ethnograph:innen erschließt. Aus historisch-kritischer Distanz ließe sich also fragen: Ist die Behauptung eines ›balinesischen Charakters‹ nicht allein dem Anspruch geschuldet, im Kurzschluss von Ethnologie und Psychologie das Unverfügbare verfügbar machen zu wollen?
Nora Binder
„Psychologische Ströme“, „soziales Klima“ und „Feedback“. Selbsterkenntnis und ‑führung innerhalb einer Epistemologie des Zwischenmenschlichen im 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich die Formierung einer folgenreichen neuartigen Figuration des Sozialen konstatieren: Des Zwischenmenschlichen. Es sind die entstehenden Psy-, Verhaltens- und Sozialwissenschaften in den USA, die ab den 1920er Jahren erstmalig beginnen, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die human relations, sowie die Weisen ihrer Steuerung in so unterschiedlichen Settings wie Fabriken, Kinderheimen, Gefängnissen und Trainingslaboren experimentell zu erforschen. Verstanden als affektiv aufgeladenes Gewebe wechselseitiger Beziehungen rückt mit dem Zwischenmenschlichen ein übergeordneter systemischer Zusammenhang von Verhalten in den Fokus, der das Subjekt – im Gegensatz zu den ideenhistorischen Vorläufern der Masse und Menge – zugleich als Einzelnes kenntlich macht: Sei es innerhalb der „psychologischen Ströme“ einer Heimgemeinschaft (J. L. Morenos Soziometrie), des „Klimas“ informeller Teams in Fabriken (Elton Mayo) oder spezifischer „Gruppendynamiken“ (Kurt Lewins experimentelle Sozialpsychologie). Dieses Praxiswissen des Zwischenmenschlichen, das in den Psy-Wissenschaften der 1920er Jahre aufscheint, verdichtet sich schließlich in den 1970er Jahren, so die Vermutung, innerhalb der angewandten und Wirtschaftspsychologie im bis heute äußerst wirkmächtigen Konzept der sozialen Kompetenz (David McClelland). Mit diesem avanciert das Handling sozialer Interaktionen zu einer der Schlüsseltechniken erfolgreicher Selbst- und Fremdführung. Sei es im Projektteam am Arbeitsplatz, in der Familie oder in romantischen Beziehungen – es wird zur zentralen Aufgabe des Subjekts, den Raum des Zwischenmenschlichen im Rückgriff auf spezifische kommunikative und behavoriale Skills mit dem Ziel der persönlichen Zufriedenheit sowie der effektiven Zusammenarbeit zu gestalten.
Das Projekt rekonstruiert, inwiefern in den frühen Studien der 1920er-1940er Jahre ein neuartiger Subjekttypus aufscheint: Ein sozialer Mensch, dessen Grenzen zur sozialen Umwelt und Interaktion sich im Praxiswissen des Zwischenmenschlichen zunehmend verflüssigen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der eigentümlichen Spannung, die der Epistemologie des Zwischenmenschlichen innewohnt: Während die soziale Umwelt einerseits als zentraler Einflussfaktor für (adaptives) Verhalten bestimmt wurde, wurde ihr gleichzeitig eine neuartige epistemische Funktion zugedacht: Erst durch die Spiegelung und Interaktion im Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen (Stichwort: „Feedback“) konnten die Einzelnen ein Wissen über sich und ihre Wirkung gewinnen, das ihnen sonst verborgen bleiben musste. Diese Form der Erkenntnis begann wiederum, neuartige Formen der Selbst- und Fremdführung zu informieren, die von nun an im Zeichen der „sozialen Kompetenz“ standen.
Ronan de Calan
Projektbeschreibung folgt.
Rosa Eidelpes
Ethnoboom, „alternative Ethnologie“ und Selbst-Entfremdung oder: Das europäische Subjekt dekolonialisieren
Das Forschungsprojekt fokussiert Formen der Verschränkung zwischen Subjektivität und Alterität im Kontext des sogenannten „Ethnobooms” und im Milieu der ethnologischen Sub- bzw. Gegenkultur “ im deutschsprachigen Raum (A, CH, D) der 1970er bis -80er Jahre. Die damals entwickelten Ansätze zu einer sogenannten „alternativen Ethnologie” verstanden sich als (wissenschaftskritisches) Projekt zur Befreiung von den „entfremdeten“ westlichen Welt- und Selbstverhältnissen und zur Infragestellung der eigenen (europäischen) Subjektivität. Die Besessenheitskulte, schamanischen Praktiken und Trancerituale außereuropäischer Gesellschaften wurden zur zentralen Referenz auf der Suche nach neuen (passivischen) Subjektentwürfen und einem Subjekt mit einer hochgradig gesteigerter Affekt- und Wahrnehmungsökonomie – einem Subjekt mit einer „neuen Sensibilität“ (Marcuse). Das Projekt verfolgt die These, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, das eurozentrische Subjektmodell zu “dekolonialisieren” – und geht der Frage nach, welche Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Stilisierungen und Exotisierungen des “Fremden” sich mit der Faszination für die Subjektivierungspratiken der „Anderen“ verbanden.
Jens Elberfeld
„Im dunklen Reich der Triebe“. Sexualität, Selbstführung und der Umgang mit dem Unverfügbaren als Problem und Praxis um 1900
Die mit Sigmund Freud verbundene Vorstellung eines dunklen Reichs der Triebe, das sich tief im Unbewussten befindet, bisweilen aber an die Oberfläche drängt und Befriedigung sucht, prägt unsere Wahrnehmung von Sexualität, und damit auch von uns bzw. unserem Selbst, bis heute. Wirft man einen Blick auf den historischen Entstehungskontext der Psychoanalyse, fällt indes auf, dass Anfang des 20. Jahrhunderts zwar oft von Trieben die Rede war, wenn es um Fragen der Sexualität ging. Allerdings wies der Begriff noch andere Bedeutungen und wissenschaftliche Bezüge auf. Freud und das psychoanalytische Modell spielten hingegen erst eine marginale Rolle. Ausgehend von dieser Beobachtung strebt das Projekt eine Wissensgeschichte des (Sexual-)Triebs im deutschsprachigen Raum in der Zeit um 1900 an. Dabei gehe ich davon aus, dass mit dem Triebkonzept eine historisch-spezifische Figur des Unverfügbaren in die Konstitution des Subjekts einging, an der überdies wirkmächtige Unterscheidungen anknüpften, deren Grenzen aufs Neue ausgehandelt wurden, wie Natur/Kultur, Psyche/Soma und Individuum/Soziales. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt: Welche divergierenden Begriffsbedeutungen lassen sich ausmachen und inwiefern änderte sich das Verständnis von Trieb im Untersuchungszeitraum? Welches wissenschaftliche wie auch nicht-wissenschaftliche Wissen lag dem zugrunde oder schloss daran an? Wie prägte das Triebkonzept die Art und Weise, wie Menschen mit ‚ihrer‘ Sexualität umgingen respektive umgehen sollten, und inwiefern wirkte dieser Modus der Subjektivierung zugleich kollektivierend?
Marie Guthmüller
Traum und Trance als Momente der (Un-)Verfügbarkeit von Selbst und Kollektiv bei Ernesto de Martino
Bereits in Il mondo magico (1948), einer ethnologischen Studie, in der Ernesto de Martino, damals noch als ‚armchair anthropologist‘, die Berichte europäischer Missionare auswertet, beschreibt er Traum und Trance als spezifische Zustände, in denen es zu einer „Krise der Präsenz“ kommt, in der sowohl das Ich als auch die Realität, in der es sich bewegt, brüchig werden. Während Wille und Handlungsvermögen des Einzelnen stark eingeschränkt sind und er selbst in hohem Maße verletzlich wird, ist es zugleich ein Zustand, in dem er mit Phänomenen in Kontakt gerät, die für die Gesellschaft, in der er lebt, von zentraler Bedeutung sind: So begegnet ein zukünftiger Schamane seinem Totemtier, sieht die Zukunft voraus, kann sich an andere Orte versetzen oder mit Toten in Dialog treten. Nur die Gemeinschaft kann den Einzelnen nachhaltig aus diesem Zustand befreien und ihn als Individuum festigen, zugleich sind die Botschaften, die er aus der im Traum erfahrenen zweiten Realität mitbringt, für die Gemeinschaft unverzichtbar um sich als solche überhaupt zu begründen und zu konsolidieren. Eben diese These führt De Martino in seiner Trilogie zum italienischen Süden weiter, in der er unter anderem den Tarantellatanz untersucht. Ihm geht es nicht, wie noch Lucien Lévy-Bruhl, um eine spezifische ‚Seele des Primitiven‘, die es diesem unmöglich macht, zwischen Traum und Wachen zu unterscheiden und sich somit als Individuum zu konsolidieren, sondern um die Dynamik zwischen Traum und Wachen als zentralem Faktor zur kulturellen und sozialen Konstitution von Individuum wie Kollektiv. An der Opposition zwischen Lévy-Bruhl und De Martino wird ein Konflikt deutlich, die sich als „zentrales Dilemma der ethnologischen Auseinandersetzung mit dem Traum“ (Probst, 1993) beschreiben lässt: Seit sie sich in ihrer Abgrenzung vom Primitivismus an der Psychoanalyse orientiert und dabei nicht für Jung, sondern für Freud optiert, läuft die Ethnologie Gefahr, den Traum als »asoziales seelisches Produkt« zu betrachten. Dadurch sei die jeweilige kulturelle Funktion des Traums in nicht-westlichen wie in westlichen, indigenen wie globalen Gesellschaften, seien diejenigen Kulturtechniken, in denen das Träumen eine Rolle spielt, aus dem Blick geraten. In dem 1966 posthum erschienenen Band Il sogno e le civilità umane geht de Martino gemeinsam mit Kolleg:innen unterschiedlicher Fachrichtungen eben dieser Frage nach.
Sandra Janßen
Ich, Du, Es, und Wir – Personalpronomina als Konzeptualisierungsformen von Selbstbezug und Vergesellschaftung
Personalpronomina beschreiben Beziehungen zwischen Individuen, insoweit sie sowohl eine Subjektivität involvieren (die auf etwas Bezug nimmt, was nicht sie selbst ist) als auch von dieser ablösbar sind (als sprachliche Platzhalter, die unterschiedlich gefüllt werden können). In der Geschichte der Humanwissenschaften konnten sie deshalb sowohl in der Konzeptualisierung von Selbstverhältnissen als auch bei der Darstellung von Vergesellschaftungsvorgängen eine Rolle spielen: Die Termini „Ich“ und „Es“ erlaubten der Psychoanalyse Sigmund Freuds, eine Unverfügbarkeit des Selbst darzustellen; „Ich“ und „Du“ beschrieben in der Religionsphilosophie Martin Bubers das Durchwirktsein der Lebenswelt vom göttlichen Gegenüber; und auch für die Beschreibung von Vergesellschaftungsformen ließen sich die Pronomina Ich, Du und Wir nutzen, für gelingende von Soziologen wie Theodor Litt und Theodor Geiger, für scheiternde von Psychiatern wie Heinrich Schulte. Das Projekt soll ergründen, warum eine Häufung entsprechender Fragestellungen insbesondere in den 1920er Jahren zu beobachten ist; dafür blickt es von dort zurück auf die Unterscheidung von „I“ und „Me“ bei William James und deren Soziologisierung bei George Herbert Mead sowie voraus auf die Darstellung der Personalpronomina bei Émile Benveniste. Zeitgenössische literarische Thematisierungen (etwa Evgenij Zamjatins „Wir“) und literaturtheoretische Bezugnahmen (bei Michail Bachtin) sind Teil der Untersuchung.
Eva Johach
Das erweiterte Selbst. Konzeptualisierungen von Kollektivbewusstsein im US-amerikanischen Psychedelismus
Die verstärkte Erforschung und Erprobung psychedelischer Erfahrungen in den 1960er und 70er Jahren geht einher mit alteriertenAuffassungen von Psyche und Bewusstsein, die etablierte Vorstellungen eines personalen Bewusstseins radikal sprengen. Das Projekt macht diese Theoriebildung zum Thema. Es geht der Frage nach, wie im Umgang mit „altered states of consciousness“ tradierte Auffassungen von Psyche und Bewusstsein in Frage gestellt, Erfahrungen der Ich-Auflösung umgewertet und nicht-personale, kollektive Dimensionen von Psyche und Selbst in bestehende Auffassungen integriert werden. Eine besondere Bedeutung bei dieser Umwertung spielt die Berufung auf nicht-westliche Kulturen, die sich in größere Diskursbewegungen einordnet („Ethnoboom“, Neoschamanismus, Easternization of the West). Es wird zu untersuchen sein, inwiefern die Berufung auf nicht-westliche Bewusstseinsvorstellungen mit einer Romantisierung und Einverleibung des „Anderen“ einhergeht und welche für das späte 20. Jahrhundert typischen, eher neo- als postkoloniale Projekte in solchen erweiterten Psychologien zum Ausdruck kommen.
Bernhard Kleeberg
Anleitung zur Imagination. Praktiken der Verfügbarmachung des Unverfügbaren
In der Geschichte der Rationalität des mittleren 20. Jahrhunderts, parallel zur Entstehung der Wissensgesellschaft, begegnen uns neue Formen der wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen etc. Nutzung der Vorstellungskraft: Praktiken und Techniken der erfahrungs- und regelgeleiteten Imagination. Die systematisch angeleitete Modellierung von Ordnung, die Extrapolation von Zukunftsszenarien wie in der „Delphi-Methode“, die gelenkte Phantasie von „Group Thoughts“ und „Buzz Sessions“, des „Imagineering“ oder Brainstorming, zielten auf die Verfügbarmachung impliziten Wissens und verdeckter Quellen der Kreativität. Wie mit dem durch eine Assoziation hervorgerufenen Geistesblitz im Rahmen eines Gedankenexperiments etwas zum Vorschein kommt, das zwar bereits da, aber doch unverfügbar war, galt es nun, die Effektivität menschlicher Imagination zu steigern und zu ökonomisieren, die in subjektiven Routinen, eingeübten Verhaltensweisen und Gewohnheiten versteckten Ressourcen an Wissen und Kreativität in geordneten Bahnen freizusetzen. Subjekt- und Soziotechniken der reflexiven Vergegenwärtigung, der Störung von Automatismen, der Intervention in das Selbstverständliche wurden entworfen, eingeübt und akademisch institutionalisiert, Formen regulierter oder nomologischer Imagination, die u.a. auf John Deweys Bestimmung von Denken als Problemlösung, Max Webers Konstruktion von Idealtypen, Hans Vaihingers Philosophie des „Als ob“ oder Ernst Machs Gedankenexperimente zurückverweisen. Das Projekt nähert sich diesen Zusammenhängen aus einer historisch-praxeologischen Perspektive.
Rebekka Ladewig
Personengebunden. Implizites Wissen zwischen Individuum und Kollektiv
Das Projekt widmet sich der Geschichte des impliziten Wissens im Zeichen der Kybernetisierung des Denkens. In klarer Absetzung zur Formalisierung des Wissens, wie sie zur gleichen Zeit durch die aufkommende Computer- und Informationstheorie vorangetrieben wurde, entwickelte Michael Polanyi in den späten 1940er Jahren an der University of Manchester die epistemologischen Ansätze eines nicht formalisierbaren – impliziten – Wissens. Zentral ist dessen Bindung an die Figur der Person bzw. des Personalen, das Subjekt dieser unverfügbaren, oft als vor- oder unbewussten beschriebenen Wissensbestände. Das Projekt untersucht diese Figur mit Blick auf die zwischen den Polen des Individuellen und des Kollektiven wirkenden theoretischen und epistemologischen Elemente. Neben wissenstheoretischen Fluchtlinien werden insbesondere die anthropologischen sowie entwicklungs- und gestaltpsychologischen Ansätze diskutiert, die Polanyis Vorstellung des impliziten Wissens informiert haben. Ziel des Projekts ist es, das Personale im Spannungsfeld von (erfahrungs- und körpergebundenen) individuellen und (denkstilistischen, traditionsgebundenen und autoritären) kollektiven Kräften zu verankern und so die politischen Aspekte der Epistemologie Polanyis auszuleuchten.
Verena Lehmbrock
Aspekte einer Wissensgeschichte des Körperbewusstseins
Untersucht werden historische Ausprägungen einer Denkfigur, nach der der menschliche Geist in ein bewusstes Subjekt und ein – weitgehend unbewusstes – Selbst zerfällt. Hierbei spielte der Körper oftmals eine zentrale Rolle: Friedrich Nietzsche entwickelte im späten 19. Jahrhundert das Konzept der ‚Großen Vernunft des Leibes‘ oder ‚Leibvernunft‘, mit dem er tradierte Vorstellungen eines rationalen und autonom agierenden Bewusstseins infrage stellte. Der Körper wurde nicht mehr nur als Sitz oder Träger des Bewusstseins betrachtet, sondern als eigentlicher Urheber geistiger Prozesse. Kurz darauf, im frühen 20. Jahrhundert, postulierte C.G. Jung in einer evolutionsgeschichtlich und ethnologisch inspirierten Wendung mit seinem Konzept des kollektiven Unbewussten universelle und kulturübergreifende Strukturen des Selbst (Archetypen), die auf einer fundamentalen Ebene Einfluss auf Bewusstsein, Wahrnehmung und Verhalten ausüben und dabei weitgehend unbewusst bleiben. Ideen eines im Körper verorteten unbewussten Teils des Selbst finden sich schließlich auch in neueren kognitions- und neurowissenschaftlichen Ansätzen rund um das Konzept der ‚embodied cognition‘ wieder, welches besagt, dass kognitive Prozesse maßgeblich durch sensorische und motorische Aktivitäten beeinflusst werden. Der Körper wird so als notwendige Grundlage für abstraktes Denken, Verstehen und Bewusstsein ausgewiesen (z.B. Lakoff & Johnson 1999).
Von Nietzsches Leibvernunft über Jungs kollektives Unbewusstes bis hin zur ‚embodied cognition‘ lassen sich Ideen eines unverfügbaren Selbst herausarbeiten, die das Selbst, oft aber auch das Subjekt, als körperlich bestimmt ausweisen. Im Projekt sollen die historischen und theoretischen Entwicklungen dieser Konzepte analysiert und mögliche Implikationen für eine Wissensgeschichte des unverfügbaren Selbst herausgestellt werden. Es ist anzunehmen, dass die genannten Perspektiven in einem Widerspruch zu manchen der Perspektiven stehen, die im Kontext der im DFG-Netzwerk fokussierten Kollektivwissenschaften (Soziologie, Kulturwissenschaften, Ethnologie) entwickelt wurden. Über das Thema des Körperbewusstseins können so Spannungen zwischen biologistischen und kulturalistischen Deutungen einer Unverfügbarkeit des Selbst diskutiert werden.
Antonio Roselli
Techniken der Unverfügbarkeit: Zur Genese des Selbst zwischen Ergriffenheit und Mimesis bei Leo Frobenius, Ernesto de Martino und Theodor W. Adorno
Das Konzept der ‚Ergriffenheit‘ weist ein hohes interdisziplinäres Potential auf, nicht zuletzt an der Schnittstelle von Religions- und Kulturwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Literaturwissenschaften, Psychologie und Psychiatrie. Die allgemeinen Definitionen der ‚Ergriffenheit‘ verweisen auf das Moment der Erregung, des Staunens, des Erlebens, des Agiert-werdens und des Betroffen- bzw. Berührt-Seins. In der Zeit zwischen den 1920er und den 1950er Jahren erlebt dieser Begriff innerhalb der genannten Disziplinen eine besondere Konjunktur, zugleich etabliert er sich als dezidiert kulturwissenschaftliches Konzept. Seine kulturwissenschaftliche Relevanz zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Ergriffenheit als Schlüssel zur Genese von Kultur schlechthin – und damit einhergehend auch der ‘ursprünglichen’ Subjekt-Objekt-Trennung – verstanden wird. In diesem Kontext ist insbesondere die Kopplung von Ergriffenheit und Mimesis zentral: der durch die Ergriffenheit eingeleitete Selbstverlust wird durch das Moment der Mimesis gesteigert, zugleich aber auch kontrolliert. Mimesis wird auf diese Weise zur primären Kulturtechnik. Das Moment der Unverfügbarkeit steht somit am Beginn der Herausbildung des Selbst – mehr noch: ohne die Bewältigung der Unverfügbarkeit durch ihre eigene Inszenierung wäre das Selbst nicht denkbar. Im Projekt soll dieser Zusammenhang anhand der Analyse ethnologischer und philosophischer Positionen von Leo Frobenius, Ernesto de Martino und Theodor W. Adorno untersucht werden. Die drei genannten Autoren gewichten das Verhältnis von Ergriffenheit und Mimesis jeweils unterschiedlich und belegen auf exemplarische (und auch kritische) Weise, welche Möglichkeiten und Gefahren im Begriff der Ergriffenheit stecken – nicht nur für das Verständnis der Phylo- und Ontogenese des Menschen, sondern auch für die Frage nach seiner Vergesellschaftung und nach den damit zusammenhängenden politischen Implikationen.
Laurens Schlicht
Zur Archäologie der „Stunde Null“ – Die Unverfügbarkeit des nationalen Selbst und die ethischen Kollektive der unmittelbaren Nachkriegszeit
In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich die Alliierten und deutsche Intellektuelle mit der Herausforderung konfrontiert, ein neues politisches Gemeinwesen in Deutschland aufzubauen. In diesem Kontext entstanden verschiedene ethische Kollektive, die den moralisch-ethischen Wiederaufbau des Landes vorantrieben. Noch während des Zweiten Weltkriegs haben sowohl die Alliierten als auch exilierte deutsche Intellektuelle und Wissenschaftler:innen begonnen, über den Charakter, die Kultur oder die Psyche der „Deutschen“ nachzudenken. Nach der Kapitulation Deutschlands stellte sich für die Akteur:innen des Wiederaufbaus rasch die Frage, nach welchen Prinzipien ein neues politisches Gemeinwesen in Deutschland konstruiert werden könnte. Interpretationen der Ursachen des Nationalsozialismus sowie Mittel, seine Wiederkehr zu verhindern, standen in dieser Zeit im Vordergrund.
In meinem Beitrag möchte ich zunächst in einer Makroperspektive untersuchen, welche unterschiedlichen ethischen Kollektive sich aus welchen Gründen formierten, um den moralisch-ethischen Wiederaufbau Deutschlands zu leisten. Ich möchte dann auf einen Spezialfall eingehen, von dem ich glaube, dass an ihm exemplarisch die komplexe Beziehung zwischen religiösen und wissenschaftlichen Normen verhandelt werden kann: Die Frage, wie neuartige Lehrer:innen an neuartigen Schulen erzogen werden sollten. Sowohl die Sozialwissenschaften als auch die christlichen Konfessionen waren hier Anker- und Bezugspunkte für die westlichen Besatzungszonen. Die Aushandlung zwischen religiösen und wissenschaftlichen Normen lässt sich am Beispiel Hessen besonders gut exemplifizieren, weil Hessen Zentren pädagogischer, sozialwissenschaftlicher und psychologischer Forschung herausbildete und in der frühen Nachkriegszeit zugleich eine sehr religiös orientierte ministeriale Leitungsebene im Kultusministerium besaß.
Mischa Suter
Eine transnationale Geschichte der Psychoanalyse zwischen Westafrika und Westeuropa in den Sechziger Jahren
Die 1960er brachten eine Flut neuartiger Reflexionen über Subjektivierung und Subjektverhältnisse, die gemeinhin mit den Schlagworten „sexuelle Revolution“ und „1968“ umrissen wird. Die im Rahmen des DFG-Netzwerks verfolgte Arbeit geht dahin, die Rolle, welche die Psychoanalyse in Westafrika in diesem Prozess spielte, zu rekonstruieren. Einen Ausgangspunkt dazu stellt die Hypothese, dass die Dekolonisierung mindestens so sehr ein epistemologisches Problem wie einen welthistorischen Prozess darstellte. Am Ende der Kolonialreiche erhielt die Frage, was das menschliche Subjekt sei, eine bislang ungekannte politische und epistemische Aufladung: In einem enorm heterogenen Feld (das von kolonialistischen Psychiatern bis zu antikolonialen Denker:innen reichte) debattierten Expert:innen der Psycho-Wissenschaften über die weltweite Universalität oder kulturelle Partikularität der Psyche. Behelfsmäßig lassen sich dieser disziplinär im Grenzbereich zwischen Anthropologie und Psychologie angesiedelte Diskurs und dieses Interventionsfeld mit dem Mantelbegriff „Ethnopsychoanalyse“ umreißen. Grundsätzlich befand sich die Psychoanalyse zur Jahrhundertmitte auf dem Höhepunkt ihres Ansehens. Zudem erscheint in der Psychoanalyse die Frage der Universalität und Partikularität mehrfach verschränkt. Ein Wissenssystem mit universellen Aspirationen, näherte sich Psychoanalyse – durch ihre hauptsächliche Technik, die talking cure – mit ethnographischer Akribie dem Leben eines einzelnen Subjekts. Das Generelle und Einzelne, das Universelle und Partikulare, Einheit und Differenz sind in der psychoanalytischen Praxis auf überraschende Weise aufeinander bezogen. Psychoanalyse in Afrika verhandelte solche Fragen mit besonderer Schärfe, nicht zuletzt, weil „Afrika“ immer schon einen Fixpunkt im kolonialen Erbe des psychoanalytischen Denkens dargestellt hatte. Als solche wirkte Psychoanalyse in Afrika in den 1960er Jahren auf Europa zurück, so wird in der Arbeit argumentiert.
Florence Vatan
Das Rätsel der “Partizipation”: Lévy-Bruhl in Deutschland
Die Werke von Lévy-Bruhl über die „geistige Welt der Primitiven“ und die „“primitive Mentalität“ fanden im deutschsprachigen Raum eine beachtliche Resonanz, sowohl in der Philosophie als auch in der Psychologie, Psychopathologie und Literatur. Denker und Schriftsteller wie Scheler, Cassirer, Husserl, Koffka, Köhler, Jung, Kretschmer, Jaensch, Benjamin, Benn und Musil zeigten ein reges Interesse an Lévy-Bruhls Thesen. Über die Faszination für die radikale Andersheit eines durch das „Gesetz der Partizipation“ bestimmten Weltverhältnisses hinaus gaben Lévy-Bruhls Ansichten Anlass zu anthropologischen Überlegungen über die Plastizität des Selbst. Sie erwiesen sich auch als Anregungen zu selbstreflexiven Analysen über die blinden Flecken und verdrängten Dimensionen des „intellektualisierten“ (Köhler) Weltbildes der westlichen Kultur. Ziel der Untersuchung ist es, eine symptomatologische Lektüre von dieser intensiven Rezeption zu unternehmen und gleichzeitig zu erforschen, wie Lévy-Bruhls Thesen dazu beitrugen, das Unverfügbare im individuellen oder kollektiven „Selbst“ zu erschließen.
Alexander Wierzock
Auf der Suche nach dem Unverfügbaren: Konstruktionen des Kollektiven in der Soziologie der 1920er Jahre
In der Zwischenkriegszeit avancierte der Kollektivsingular des Neuen Menschen zu einer Unverfügbarkeitsfigur par excellence. Bislang vorwiegend in Kreisen der Lebensreformer diskutiert, rückten mit dem Umbruch von 1918/19 Fragen zur Neubestimmung des Einzelindividuums im Verhältnis zu sich selbst und zur Gesamtheit auf die Tagesordnung. Insbesondere in den Gesellschaften Zentral- und Osteuropas erreichte diese Suchbewegung omnipräsente Ausmaße. Bereiche wie staatsbürgerliche Erziehung, Kunst, Wohnarchitektur, Unterhaltung, Sport und auch Wissenschaften wurden zu regelrechten Verdichtungsräumen für Neue-Mensch-Imaginationen. Die sich seinerzeit institutionalisierende Soziologie, so die These des Projekts, beteiligte sich umfassend an diesen Diskursen. Im Modus einer gegenwartsbezogenen Gesellschaftsanalyse begann die junge Disziplin explizit nach Neuen Menschen zu suchen. Parallel dazu generierte sie auf impliziter Ebene, von einer vermeintlich neutralen Beobachterposition aus, zahlreiche neue Menschengestalten. Dies geschah, indem diejenigen Akteure, die diese neuen Subjektentwürfe propagierten und in die Praxis umzusetzen versuchten, ihrerseits als soziale Formationen pathologischer Art kategorisiert wurden. Das Forschungsvorhaben untersucht diese Dynamiken genauer und beleuchtet damit die Soziologie als einen zentralen Konstruktionsraum des Kollektiven während der 1920er Jahre.